Parlamentswahlen 2022: Südtirol braucht ein eigenes Wahlgesetz
Für Autonomie und Eigenständigkeit
von Pius Leitner, freiheitlicher Ehrenobmann und Landtagsabgeordneter a.D.
Angesichts der immensen Herausforderungen (Corona, Inflation, Ukraine-Krise, Explosion der Energiekosten, Erderwärmung, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten) ist das Auslösen einer Regierungskrise unverständlich und verantwortungslos. Wenn Parteiinteressen wichtiger sind als das Wohlbefinden des Volkes, stellt sich eine Demokratie selbst in Frage. Italien hat vorgemacht, wie man es nicht machen sollte.
Diese Parlamentswahlen unterscheiden sich von den bisherigen in einem Punkt entscheidend; es wird erstmals im frühen Herbst gewählt und der Wahlkampf findet im Sommer statt. Das so genannte mediale Sommerloch dürfte es heuer also nicht geben, aber es stellt sich die Frage nach der Wahlbeteiligung. Zu befürchten ist, dass sich der seit mehreren Wahlgängen offenbarte Abwärtstrend fortsetzt und die Wahlmüdigkeit zunimmt. Muss man sich angesichts der parteipolitischen Intrigenspiele darüber wundern? Wie ernst wird die Wählerschaft genommen, wenn Hunderte von Parlamentariern während der Legislaturperiode die Partei bzw. die Fraktion wechseln, teilweise sogar mehrmals? Das kommt nicht nur einem Wählerbetrug gleich, sondern verursacht auch zusätzliche Kosten. Der politische Hemdwechsel, der so genannte „cambio di casacca“, ist mittlerweile zu einem gängigen Instrument der parteipolitischen Taktik geworden, kommt aber einer Täuschung der Wählerschaft gleich.
Was die Abkehr breiter Wählerschichten von der Politik zusätzlich befeuert, sind die „unnatürlichen“ Wahlbündnisse. Zur Sicherung von Parlamentssitzen sind Gruppierungen zu inhaltlichen Kompromissen bereit, die weit entfernt von eigenen Grundsätzen sind. Einmal im Parlament, zersplittert sich das Bündnis wieder und eine einzige Splittergruppe reicht aus, um die Regierung zu Fall zu bringen. Das Ziel, mit dem Wahlgesetz kleinen Gruppierungen den Zugang zu den Parlamentssitzen zu erschweren und Zusammenschlüsse zu erzwingen, wurde lediglich für die Zeit des Wahlkampfes erreicht. Ob die Verkleinerung der Abgeordnetenkammer von 630 auf 400 und jene des Senats von 315 auf 200 Sitze grundsätzlich etwas ändert, bleibt abzuwarten und darf bezweifelt werden.
Das Wahlgesetz müsste dringend dahingehend geändert werden, dass Parlamentariern ein Fraktionswechsel während der Legislaturperiode untersagt wird. Wer sich vom Wahlvolk auf einer bestimmten Liste wählen lässt, gehört dieser Liste bis zum Ende der Legislaturperiode an oder gibt sein Mandat zurück!
Für Südtirol ergeben sich bei Parlamentswahlen eigene Notwendigkeiten. Im Mittelpunkt steht dabei die Absicherung und Weiterentwicklung autonomer Befugnisse – jenseits von politischen Bündnissen mit Staatsparteien und unabhängig vom politischen Wind in oder aus Rom. Das entsprach zumindest dem Selbstverständnis der Väter unserer Autonomie. Dieser Grundsatz wurde seit der Streitbeilegungserklärung vor 30 Jahren nach und nach aufgeweicht und die SVP erlag den Sirenengesängen der römischen Politik. Zur Absicherung der eigenen Mandate wurden Wahlgesetze gezimmert, die nicht so sehr dem Minderheitenschutz dienen, sondern mittels eines „Maßanzuges“ vornehmlich der eigenen Machtabsicherung bei gleichzeitiger Verhinderung politischer Mitbewerber.
Die Südtiroler Parteienlandschaft hat sich in den letzten 30 Jahren gewandelt und die SVP vertritt bei weitem nicht mehr die Mehrheit der Südtiroler. Daher ist der Alleinvertretungsanspruch der SVP nicht gerechtfertigt, sondern Ausdruck von Arroganz und Machtrausch. Mit Demokratie, die diesen Namen verdient, hat das wenig zu tun.
Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass es auch anders gehen könnte. Am Ende des ersten Weltkrieges vereinten sich die bürgerlichen Parteien in Südtirol, die Tiroler Volkspartei (entstanden aus der Fusion von Konservativen und Christlichsozialen) und die Deutschfreiheitlichen zum Deutschen Verband. Die 1919 begründete Partei der Südtiroler Sozialdemokraten lehnte den Deutschen Verband ab und zog es vor, mit den Sozialisten zusammenzuarbeiten. Bei den Parlamentswahlen 1921 erreichte der Deutsche Verband über 90% der Stimmen und errang alle vier zur Verfügung stehenden Parlamentssitze (Friedrich von Toggenburg, Wilhelm von Walther, Eduard Reut-Nicolussi und Karl Tinzl). Die Partei der Sozialdemokraten wurden von der faschistischen Mussolini-Regierung 1924 verboten, der Deutsche verband 1926.
Die Südtiroler Volkspartei knüpfte am Ende des zweiten Weltkrieges an diese Tradition an. Sichtbares Zeichen war die Wahl des Edelweiss als Parteizeichen, bereits vom Deutschen Verband als solches verwendet.
Warum dieser Hinweis auf den Deutschen Verband? Heute mag er weltfremd erscheinen, befinden wir uns im Jahr 2022 doch in einem völlig anderen Umfeld. Und doch enthält er eine grundsätzliche Botschaft, die man aufgreifen sollte: wenn es um Südtirol als Ganzes, wenn es um Schutz, um Ausbau und Weiterentwicklung der Autonomie geht, braucht es die Zusammenarbeit Gleichgesinnter im eigenen Land – unabhängig von Parteizugehörigkeit. Dazu gehört aber auch die Bereitschaft, den Zugang zu den Mandaten offen zu gestalten und die Zuteilung der tatsächlichen Stärke entsprechend. Nicht die Parteizentralen sollen entscheiden, sondern der Wähler!
Aktuell müssen Kandidaten einer Partei entweder einen Einerwahlkreis gewinnen (was für Kandidaten kleiner Parteien beinahe aussichtslos ist) oder die Parteien 20% der Stimmen in der Region (40% in Südtirol!) erreichen – für kleinere Parteien ebenfalls aussichtslos. Dies zwingt kleine Parteien entweder zu unnatürlichen Allianzen, zu aussichtslosen Eigenkandidaturen mit hohen Folgekosten oder zu einem Kandidaturverzicht, was nicht im Sinne der Demokratie sein kann.
Die Forderung, für die Wahl der Abgeordnetenkammer wieder das reine Verhältniswahlrecht ohne Hürden und mit Vorzugsstimmen einzuführen, sollte endlich gehört und umgesetzt werden. Man möge mir nicht mit der Ausrede kommen, dies sei nicht möglich. Welches Interesse könnte Rom haben, eine solche Forderung abzulehnen? So wie bei den Landtagswahlen sollte Südtirol einen einzigen Wahlkreis bilden und die ihm zustehenden Sitze proportional erhalten. Aufgrund der besonderen ethnischen Situation würde dann wieder wirklich jede Stimme gleich viel zählen, Angehörige der italienischen Sprachgruppe in Innichen oder Reschen könnten einen Italiener in Bozen und Angehörige der deutschen Sprachgruppe in Bozen einem Vertreter aus dem Pustertal oder dem Vinschgau ihre Stimme geben. Die derzeitige Einteilung der Wahlkreise entspricht nicht den Erfordernissen unserer Autonomie bzw. der drei Sprachgruppen.
Die Einteilung der drei Südtiroler Senatswahlkreise ist auf der Grundlage der Paketmaßnahme 111 geregelt. Die aktuelle Diskussion um den Wahlkreis Bozen/Unterland bzw. um die Kandidatur eines SVP-Kandidaten treibt skurrile Blüten. Alt-Senator Oskar Peterlini widerspricht zu Recht Alt-Senator Karl Zeller, dieser Wahlkreis stünde einem Angehörigen der italienischen Sprachgruppe zu. Wahr ist vielmehr, dass man aufgrund wahltaktischer und wohl auch inhaltlicher Absprachen diesen Wahlkreis mehrmals den Italienern überlassen hat. Mehr noch, es war die SVP, die auch italienische Kandidaten ausgesucht und den Südtirolern vorgesetzt hat, noch dazu aus anderen Provinzen. Wer ist der Erfinder einer Frau Boschi oder eines Herrn Bressa? Das war nicht der Autonomie geschuldet, sondern parteipolitischen Absichten.
Wer immer Südtirol im römischen Parlament vertritt, hat die Aufgabe, die Eigenständigkeit des Landes in den Mittelpunkt zu stellen. Damit eine ausgewogene Vertretung und ein Querschnitt der Bevölkerung zum Ausdruck kommen, ist das Wahlgesetz entsprechend zu ändern. Nur so kann verhindert werden, Parteien in unnatürliche Listenverbindungen zu zwingen, möchten diese der Wählerschaft eine Alternative bieten. Südtirol gehört nicht der SVP!