von Pius Leitner, freiheitlicher Ehrenobmann und L. Abg. a.D.
Heuer stehen zwei historische Erinnerungsdaten auf der politischen Tagesordnung, die Südtirol in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltig geprägt haben: Zum 50. Mal jährt sich das Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts und zum 30. Mal die Abgabe der so genannten Streitbeilegungserklärung seitens Österreichs und Italiens vor der UNO. Die Erinnerungsveranstaltungen zu diesen beiden Ereignissen werfen ihre Schatten voraus, zumal die Bewertung der Auswirkungen durchaus unterschiedlich ausfällt.
Laut Eigendefinition der seit 1946 regierenden SVP und laut Einschätzung externer und amtlicher Beobachter ist Südtirol mit der weltbesten Autonomie ausgestattet. Niemand wird bezweifeln, dass Südtirol dank autonomer Befugnisse in den vergangenen 50 Jahren eine gute Entwicklung genommen hat. Wenn wir zu den reichsten Regionen Europas gehören, so verdanken wir dies einerseits unserem Autonomiestatus, vor allem aber dem Fleiß der Südtiroler. Vollbeschäftigung und allgemeiner Wohlstand, eine vorteilhafte Finanzregelung mit dem Staat, die großzügige Investitionen möglich machte sowie gute Rahmenbedingungen und Frieden ermöglichten eine gute wirtschaftliche Entwicklung.
Wie schaut es aber mit der Befindlichkeit als Minderheit in einem fremdnationalen Staat aus? Wie steht es um Muttersprache und Kultur, wie um den geistigen Wohlstand? Hat dieser mit dem wirtschaftlichen Wohlstand Schritt gehalten? Um den Kern und die Mängel der Autonomie und des Minderheitenschutzes zu beschreiben, muss man mittlerweile nicht mehr bei der lästigen Opposition nachfragen, nein, da ist Landeshauptmann Arno Kompatscher selbst die erste Adresse.
Anlässlich seiner Wienreise, bei der Kompatscher die höchsten Vertreter Österreichs zu den Gedenkveranstaltungen „50 Jahre Zweites Autonomiestatut“ und „30 Jahre Streitbeilegungserklärung“ einlud, brachte er auch die Bitte vor, das Vaterland möge doch bitte auf Rom einwirken, das Aushöhlen der Südtiroler Autonomie zu unterlassen. Man reibt sich die Augen ob dieser Bitte, verkündet die SVP doch jahrein jahraus die Botschaft, es sei alles „in Butter“. Noch dazu äußerte diese Bitte nicht etwa der SVP-Obmann, sondern der Landeshauptmann, der bei Südtirolern eher wegen seiner Romtreue im Blickfeld steht.
Die Aussage von Kompatscher, der Stand der Südtirol-Autonomie sei hinter den Stand von 1992 zurückgefallen, ist nicht nur bemerkenswert, sie ist das Eingeständnis, dass 30 Jahre heiße Luft verkauft wurde. Der Verweis auf die Verfassungsänderung des Staates im Jahre 2001, womit Südtirol Zuständigkeiten an den Staat abgeben musste, ist richtig. Warum hat man aber 20 Jahre gewartet, um das gegenüber Österreich auch offiziell vorzubringen? Wenn die Opposition darauf hinwies, wurde dies als „Autonomie-Bashing“ abgetan. Die SVP hat die Südtiroler seinerzeit aufgerufen, für diese Verfassungsreform zu stimmen. Die Begründung lag darin, dass erstmals die Bezeichnung „Südtirol“ in die italienische Verfassung Eingang fand und zwar in Zusammengang mit der Region! Deren offizielle Bezeichnung lautet seither „Regione Trentino/Alto Adige-Südtirol“. Dass sich der Staat in Sachen Raumordnung, Landschaftsschutz, Jagd, Ökologie usw. bis dahin beim Land angesiedelte Zuständigkeiten unter den Nagel riss, wurde den Südtirolern vorenthalten bis es nicht mehr zu verschleiern war. Die Grenzen der Autonomie hat Rom letzthin bei der Gestaltung der Corona-Pandemie aufgezeigt. Den Rest für den Autonomieabbau erledigt der Verfassungsgerichtshof.
Wenn der Landeshauptmann die Finanzregelung als große Errungenschaft und als Sicherungspakt bezeichnet, muss auch dies relativiert werden. Von den ursprünglich vorgesehenen 90% der in Südtirol eingehobenen Steuern verbleiben inzwischen tatsächlich weniger als 75%. Zudem hat Kompatscher, ohne die Zustimmung des Landtages einzuholen, auf einige Milliarden Euro verzichtet und zugesichert, dass sich Südtirol über Gebühr an der Tilgung der staatlichen Schuldenlast beteiligt. Beim so genannten Mailänder Abkommen erklärte Kompatschers Vorgänger, Luis Durnwalder, Südtirol bekomme jetzt zwar weniger Geld, dieses aber sicher. Sicher ist, dass Südtirol dem Staat einige Lasten finanzieller Natur abgenommen hat, so die Bezahlung der Lehrer und die Kosten für die Staatsstraßen. Rom schafft, Südtirol zahlt.
Es ist klar, dass die autonomen Befugnisse nur mit den notwendigen Geldmitteln ausgeübt werden können. Die Südtirol-Autonomie kann jedoch nicht nur auf Geld reduziert werden. Für den Fortbestand und die Absicherung der Autonomie sind Bestimmungen im Bereich von Schule und Kultur entscheidend. Beim Gebrauch der Muttersprache hapert es nach wie vor und was auf dem Papier steht, findet im Alltag nicht immer Anwendung. Diesbezüglich kann die Schuld nicht auf Rom geschoben werden, da liegt der Hase im Südtiroler Pfeffer begraben. Der Angriff auf den ethnischen Proporz geht munter weiter und er findet immer öfter auch Schützenhilfe von der Südtiroler Politik. So hat Landeshauptmann Kompatscher unlängst erklärt, dass rund 100 Stellen ohne Berücksichtigung des Proporzes ausgeschrieben werden. Der Protest hält sich in Grenzen bzw. wird abgeschmettert. Es mag sein, dass infolge der Vollbeschäftigung der Arbeitsmarkt beinahe leergefegt ist, einen Pfeiler der Autonomie leichtfertig anzusägen, könnte den Einsturz des gesamten Autonomiegebäudes nach sich ziehen.
Unabhängig von parteipolitischen Bewertungen, die einen subjektiven Anstrich haben können, geht es mir um das Gesamtbild, das Südtirol nach außen abgibt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine normale Auseinandersetzung in einer Oppositionspartei gerne als Streit oder Skandal hingestellt wird, ein handfester Streit in der SVP jedoch als normale Diskussion. Man sei nun halt einmal eine Sammelpartei, in der es viele Seelen gibt. Die meisten Medien folgen dieser Diktion. Was derzeit innerhalb der SVP abgeht, hat es jedoch noch nie gegeben. Mittlerweile ist offenkundig geworden, dass Landeshauptmann Kompatscher und SVP-Obmann Achammer nicht miteinander können. Während Achammer vom Hause Athesia gestützt und gefördert wird, hat Kompatscher, augenscheinlich kein Freund der Ebner-Brüder, zwar keine innerparteiliche Hausmacht, dafür jedoch die Medien mit Linksdrall und eine große Anzahl von Förderern und Unterstützern. Dies ist nicht nur unter dem ideellen Gesichtspunkt zu bewerten, sondern auch unter dem finanziellen. In den vergangenen Tagen wurden die Namen jener Personen und Unternehmen veröffentlicht, welche die SVP und insbesondere Landeshauptmann Kompatscher bei den Wahlen 2018 unterstützt haben. Da reibt man sich wiederum die Augen und sieht politische Zusammenhänge aus einem anderen Blickwinkel. Da fallen einem Projekte von Personen und Unternehmen ein, die nun als Geldgeber für die SVP bzw. deren Kandidaten ans Licht kommen. Ein Schelm, der dabei denkt, das Projekt könnte einen Schubs bekommen?
„Im Netzwerk der Spender“ titelte die Wochenzeitung ff in ihrer Ausgabe vom 17. März 2022 und veröffentlichte in einem sechsseitigen Bericht sowohl die Liste der Spender als auch die Verbindungen und Verstrickungen zwischen Politik und Wirtschaft. Es brodelt in den Reihen der SVP-Kandidaten, seit herausgekommen ist, dass einige Kandidaten, zumal Landeshauptmann Kompatscher, in eklatanter Weise bevorzugt gesponsert wurden. Besonders brisant ist der Umstand, dass im „Spendensammlerkomitee“ Heinz Peter Hager saß. Der bekannte Wirtschaftsprüfer ist nicht irgendwer. Er betreut Projekte des Investors René Benko, so die Verbauung des Virgl mit einem geplanten Volumen von 129 Millionen Euro, den Waltherpark und das Bahnhofsareal. Er ist seit Jahren Berater Kompatschers, scheint als Spender und Spendensammler sowie als Berater mehrerer Unternehmer auf, von denen er selbst Spenden eingesammelt hat.
Den Streit innerhalb der SVP hat Landeshauptmann Kompatscher selber damit befeuert, dass er in einem Interview mit „AltoAdigeInnovazione“ sagte: „Ich mache nicht das Feigenblatt der SVP. Wir sind eine Sammel- und keine Lobbypartei“. Damit trat er selbstredend den starken Vertretungen von Bauern und Touristikern auf die Füße und die Reaktionen waren entsprechend. Da nützte auch das Hinausreden auf ein Missverständnis und eine gemeinsame Erklärung mit Achammer nichts. Tatsache ist, dass die SVP schon lange, im Grunde seit 1992, keine Sammelpartei mehr ist, sondern ein Konglomerat von Standes- und Gruppeninteressen. Das so genannte „Feigenblatt-Interview“ Kompatschers lässt inzwischen Spekulationen aufkommen, er könnte bei den kommenden Landtagswahlen sogar mit einer eigenen Liste antreten.
Am 18. März 2022 wurde in Bozen das Buch „Freunde im Edelweiss“ der Autoren Artur Oberhofer und Christof Franceschini vorgestellt, das die Abhörprotokolle zur SAD beinhaltet. Es geht um die Vergabe der Konzessionen für den öffentlichen Personennahverkehr, aber auch um die Einwirkungen von außen auf die Bestellung der Landesregierung. Die „Nettigkeiten“, die Politiker und Beteiligte über ihre Parteifreunde verbreiten, haben es in sich.
Landeshauptmann Kompatscher, der von „Parteifreunden“ nicht gerade mit Lobeshymnen überhäuft wird, hat bekanntlich seine erneute Kandidatur davon abhängig gemacht, dass dieser „SAD-Skandal“ aufgearbeitet wird. SVP-Obmann Achammer versucht die Wellen zu glätten und sucht das Heil darin, mit einem „Ethik- bzw. Verhaltenskodex“ seine Schäfchen an die Kandare zu nehmen. Man darf gespannt sein, ob nun Ruhe einkehrt oder ob es doch Konsequenzen (personeller und inhaltlicher Natur) gibt.
Dass Landeshauptmann Kompatscher einen autonomiepolitischen Kurs verfolgt, der selbst innerhalb der SVP nicht allen gefällt, ist bekannt. Anscheinend fühlt er sich im linksgrünen Umfeld wohler als in den Gefilden seiner Partei. Bei volkstumspolitisch aktiven Menschen stößt er auf geringe Gegenliebe, erst recht seit er in Eigenregie veranlasst hat, mit Reinhold Messner, Lilly Gruber und Josef Zoderer Vertreter des „anderen Südtirol“ mit dem Ehrenzeichen des Landes Tirol auszuzeichnen. Bei aller Anerkennung der Lebensleistungen dieser Personen, dieses Signal ist eine Kehrtwendung in der Südtirol-Politik und erinnert stark an die Politik eines Alexander Langer.
Die SVP-internen Angelegenheiten müssten einen nicht bekümmern, strahlten sie nicht auch auf das Gesamtbild Südtirols aus. Es geht um Südtirol und seine Menschen, es geht um eine gedeihliche Zukunft aller und nicht um parteipolitischen Klientelismus. Die Menschen warten auf Lösungen für ihre Alltagsprobleme (Wohnen, Pflege, Kaufkraft, Zuwanderung usw.), sie warten aber auch auf eine klare politische Ausrichtung, die Südtirol mehr Eigenständigkeit erlaubt.
Südtirol ist autonomiepolitisch nicht nur hinter den Bestand von 1992 zurückgefallen, in den vergangenen 30 Jahren hat es seine Seele verloren. Aus dem ursprünglichen Volksgruppenschutz wurde ein Volksgruppenausgleich, der immer öfter, unter Zutun der Südtiroler selbst, zu Unterwerfung und Selbstaufgabe führt. Es droht sich die Befürchtung zu bewahrheiten, aus den Südtirolern würden mittelfristig bestenfalls Deutsch sprechende Italiener. Dann wäre die Autonomie allerdings Geschichte, denn die Autonome haben wir einzig und allein deshalb, weil wir keine Italiener sind.
In der SVP zeichnet sich kein autonomiepolitisches Denken im Sinne von mehr Eigenständigkeit ab, dafür aber eine Richtungsänderung hin zu einer immer stärkeren Identifizierung mit Italien. Das kann man beispielsweise daran erkennen, wie leichtfertig im Alltag, aber auch bei offiziellen Veranstaltungen, auf den Gebrauch der Muttersprache verzichtet wird. Das drückt sich aber auch dadurch aus, wenn den Südtirolern von der SVP Kandidaten aus italienischen Provinzen aufgedrückt werden (Bressa, Boschi). Wer heuer 50 Jahre Zweites Autonomiestatut feiert und gleichzeitig diese Entwicklung ignoriert oder gar fördert, übt Verrat am politischen Erbe von Männern wie Silvius Magnago und Anton Zelger.
Die Südtiroler Autonomie ist nur dann eine Erfolgsgeschichte, wenn sie als Etappe auf dem Weg zu immer mehr Eigenständigkeit bis hin zur Unabhängigkeit gedeutet und gelebt wird. Wie die Geschichte lehrt, haben Minderheiten in fremdnationalen Staaten auf lange Sicht stets das Nachsehen – Aosta und Elsass docent!
Südtirol hat zwar einen Kompatscher, den Kompass hat es aber verloren. Dieser liegt in den Ergebnissen des Autonomiekonvents. Wann geht man an deren Umsetzung?