Am vergangenen Dienstagabend war der Freiheitliche Ehrenobmann und L.Abg. a.D. Pius Leitner bei den „POLITiS“-Gesprächen der Reihe „Migration Kontrovers – Erkenntnisse und Positionen zur Migration im Gespräch“ zu Gast. Gemeinsam mit dem Landessekretär des AGB/CGIL, Alfred Ebner, diskutierte er vor rund 30 Zuhörern die Frage „Müssen wir alle migrationswilligen Menschen aufnehmen?“.
Untenstehend finden Sie das Kurzreferat von Pius Leitner zum Thema, mit welchem in die Diskussion eingeleitet wurde:
Müssen wir alle Migrationswilligen aufnehmen?
Darf sich jeder aus jedem Grund Zugang zu einem Land im Norden verschaffen?
Menschenrechtskonventionen, Verfassungen, christliche Werte, humanitäres Völkerrecht verpflichten die Staaten, politisch Verfolgte und Flüchtlinge aufzunehmen. Rettung aus Seenot, Aufnahme von Kriegs- und Katastrophenopfern, Asyl für Opfer politischer Gewalt – all das scheint aus ethischer Sicht in Frage gestellt werden zu können. Allerdings gibt es noch kein Menschenrecht auf freie Migration, also ein Recht, sich in jedem Land der eigenen Wahl auf Dauer niederzulassen. Die humanitäre Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten ist eines, die freie Migration aus Arbeitsgründen etwas anderes.
Zwei unterschiedliche ethische Auffassungen prägen die Diskussion um Migration und Flüchtlinge:
Einmal die Gesinnungsethik, die von absoluten Grundsätzen ausgeht; zum anderen die Verantwortungsethik, die nach den Folgen, Anreizen und Risiken der Migration fragt. Sind offene Grenzen die richtige Antwort auf das Elend in der Welt? Welche ethische Verantwortung haben wir als Menschen und Gesellschaft für Migranten? Welche Rechte und Pflichten haben dagegen die Migranten? Darf sich jeder aus jedem Grund Zugang zu einem Land im Norden verschaffen und dort Aufenthaltsberechtigung und Versorgung beanspruchen? Welche Verantwortung haben wir als wohlhabende Industrieländer?
Zunächst freue ich mich darüber, dass die Veranstalter eine klare Begriffsbestimmung vorgenommen haben, dass sie zwischen Flüchtlingen und Migranten unterscheiden. Dies geschieht in den allermeisten Diskussionen leider kaum, was nicht nur zu Missverständnissen führt, sondern eine konstruktive Debatte verhindert.
Wenn wir über Flüchtlinge reden, kommen wir an der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vorbei. Diesem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetem „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ ist auch Italien im Jahr 1954 beigetreten. Bis heute wurde die Konvention von 147 Staaten ratifiziert. Ergänzt wurde die Konvention am 31. Jänner 1967 durch das „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge „, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat.
Im Grunde gingen die Unterzeichnerstaaten die Verpflichtung ein, das Asylrecht zu achten und umzusetzen.
Die Konvention soll den Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zur -Anwendung bringen. Sie legt fest, wer ein Flüchtling ist, welchen Schutz Flüchtlinge beanspruchen können, welche Rechte und Pflichten Flüchtlinge haben.
Die GFK gewährt kein Recht auf Asyl, sie begründet also keine Einreiserechte für Personen, sondern ist ein Abkommen zwischen Staaten zur Regelung des Rechts im Asyl, nicht auf Asyl.
Die GFK bestimmt die Kriterien, die Asylwerber zu erfüllen haben, um internationalen Schutz beanspruchen zu können.
Laut Art. 1 der GFK ist ein Flüchtling eine Person, die „aus der begründeten Furcht von Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatszugehörigkeit sie besitzt und den Sch Ute dieses Landes nicht in Anspruch nehmen will…“
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist die GFK nicht pauschal auf Kriegsflüchtlinge anwendbar. Gleiches gilt für Fluchtbewegungen durch Naturkatastrophen und Umweltveränderungen – auch diese genießen nicht den Schutz durch die GFK.
Ziel der Konvention ist ein möglichst einheitlicher Rechtsstatus für Menschen, die keinen diplomatischen Schutz ihres Heimatlandes mehr genießen.
Art. 31 der GFK bestimmt, dass ein Flüchtling, der unmittelbar aus einem Gebiet kommt, in dem sein Leben oder seine Freiheit im Sinne von Art. 1 bedroht waren, nicht aufgrund einer illegalen Einreise oder eines illegalen Aufenthalts bestraft werden darf, sofern er sich umgehend bei den Behörden meldet.
Art. 33 der GFK regelt das Verbot der Nichtrückschiebung. Ein Flüchtling ist nicht „auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,Staatszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“. Er darf dabei nicht in ein Land zurückgewiesen werden, ohne dass sein Flüchtlingsstatus vorher geklärt worden ist.
Man geht davon aus, dass inzwischen 15 Millionen Menschen aufgrund der GFK Schutz gefunden haben. Über die Einhaltung wacht die UNHCR (Höher Kommissar der VN für Flüchtlinge) mit Sitz in Genf.
So weit der normative Rahmen. Die Welt hat sich inzwischen stark verändert, ebenso die Art der Fluchtbewegungen. Daher ist die Forderung nach einer Überarbeitung bzw. Anpassung der GFK sicher berechtigt. Es gibt immer öfter auch Kritik darüber, dass einzelne Regierungen ihren internationalen Verpflichtungen nicht oder nur unzureichend nachkommen und dass sie das Asylrecht nur mit größten Einschränkungen umsetzen.
Die Definition des schutzbedürftigen Flüchtlings verlangt angesichts der neuen Realitäten nach einer Änderung bzw. Anpassung. Die meisten großen Flüchtlingskatastrophen der letzten Jahre wurden nicht durch internationale Konflikte, sondern durch Bürgerkriege ausgelöst. (Südsudan, Sudan, Syrien, Jemen, Somalia, Afghanistan;).
Der Wortlaut der Konvention bezieht sich nicht eindeutig auch auf Flüchtlinge, die vor der Gewalt von Milizen und Rebellen Schutz suchen. Das UNHCR vertritt die Position, dass eine Person auch dann internationalen Schutz beanspruchen kann, wenn der eigene Staat einen solchen Schutz nicht mehr garantieren kann oder will.
Die GFK wurde im Laufe der Zeit in Aufnahmeländern immer restriktiver angewendet. Zudem wurden zahlreiche Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt.
Da taucht unweigerlich die Frage auf: Entsprechen Geist und Sinn der GFK den heutigen Realitäten? Wie steht es um die Pflicht der Staaten, jene Menschen zu schützen, die vor Krieg und Gewalt fliehen?
Diese Frage aus ethischer Sicht zu beantworten ist spannend und schwierig zugleich. Der von Freunden einer Willkommenskultur viel gescholtene ungarische Ministerpräsident Victor Orban hat die Frage so gestellt: Gibt es ein Grundrecht auf ein besseres Leben? Das ethische Dilemma der Flüchtlingspolitik zeigt sich genau in dieser Frage, genauer, nach der Verwirklichbarkeit eines solchen Grundrechts. Es handelt sich um einen Bereich, in dem Politik und Moral unweigerlich aufeinanderprallen – mit ihren unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben. Der Wunsch nach einem besseren Leben ist zwar menschlich nachvollziehbar, er kann aber nicht wirklich eingeklagt werden. Damit soll nicht der Status von Flüchtlingen geschwächt werden, aber es dürfen auch nicht falsche Hoffnungen und Illusionen geweckt werden.
Ist die Aufnahme von Flüchtlingen ein Gebot der Mitmenschlichkeit?
Das moralische Urteil scheint einfach, die praktische Durchführung jedoch komplizierter.
Wir helfen Notleidenden, weil wir uns gut vorstellen können, auf solche Unterstützung zählen zu wollen, falls wir selber in eine vergleichbare Lage kämen und uns nur noch durch Flucht retten könnten. Insofern ist das Asylrecht eine Anwendung der so genannten Goldenen Regel, die als Richtschnur vorgibt, andere Menschen so zu behandeln wie wir unter ähnlichen Umständen behandelt werden wollten.
Keine Diskussion zum Flüchtlingsthema kommt am Jahr 2015 vorbei. Angela Merkels „Wir schaffen das“, bei gleichzeitiger Umgehung demokratischer Institutionen und bei Außerkraftsetzung internationaler Rechtsnormen (Dubliner Abkommen) hat in weiten Kreisen der Bevölkerung Unverständnis, Angst und Unsicherheit ausgelöst.
Eine ethische Sicht der Lage kann leicht besserwisserisch klingen, die gut gemeinten Ratschläge müssen ja nicht den Praxistest konkreter Politik bestehen. Wer aus dem sicheren Abstand der Beobachterperspektive mit hohen Idealen die Verhältnisse kommentiert und kritisiert, muss sich den Vorwurf der Realitätsferne und des Gutmenschentums gefallen lassen bzw. er muss zumindest damit rechnen.
Welche konkreten Antworten gibt eine „weltoffene Ethik“ auf die aktuelle Migration? Dabei ist klar, dass diese nicht als isoliertes Phänomen betrachtet werden kann, sondern in einem komplexen Zusammenhang steht.
Gibt es eine ethisch gebotene Option, die nicht auch unerwünschte Nebeneffekte oder Folgewirkungen auslöst? Wohl kaum, denn Flüchtlingsbewegungen ab einer bestimmten Größenordnung konfrontieren die Aufnahmeländer mit einem Regulierunsproblem. Dieses kann selbst mit den besten moralischen Absichten nicht einfach weggewischt werden. Ein Asyl für alle, die dies wünschen, kann es nicht geben.
Migration betrifft inzwischen nicht nur einzelne Staaten, sie hat eine europäische Dimension erreicht und droht zu einer Zerreißprobe für das politische Projekt Europas zu werden.
Ist eine Verteilung auf alle Mitgliedsstaaten die Lösung? Ich sage Nein, denn den Migranten genügt es offensichtlich nicht, sich irgendwo in Europa vorerst in Sicherheit zu wissen. Sie haben sich mit der Vorstellung von einem ganz bestimmten Zielland auf den Weg gemacht.
Anhänger einer prinzipiellen Option für eine Willkommenskultur wundern sich darüber, dass politische und moralische Stellungnahmen auf Widerstände stoßen. Eine Migrationspolitik, die mehr sein will als ein Herumdoktern an Symptomen, muss sich klar dazu äußern, wie sie sich eine mittel- und langfristige Zukunft vorstellt.
Natürlich sind nicht alle irregulären Migranten Kriminelle, aber da sind wir wieder beim Regulierungsproblem.
Jede vernünftige Flüchtlingspolitik zwingt zu einer Auseinandersetzung mit den Fluchtursachen. Nur deren Beseitigung kann den Druck auf die Aufnahmeländer nehmen. Der moralische Druck auf die Aufnahmeländer mit Verweis auf Ausbeutung, politische Versäumnisse oder ökonomische Gier mag gerechtfertigt sein, eine massive Abwanderung in den Herkunftsländern ist keine Lösung. Die Mischung aus schlechtem Gewissen und Ratlosigkeit sind schlechte Wegbegleiter. Die christliche Ethik in Ehren, ohne klare rechtliche Grundlagen sehe ich kaum Chancen, die vergiftete Debatte auf einen tragfähigen Boden zu bringen.
Die bisherige Entwicklungshilfe ist gescheitert!
Haben wir in der Diskussion zu viel Moralismus?
Der Theologieprofessor Ulrich Körtner wünscht sich von der Kirche mehr politischen Realitätssinn. Er beanstandet die Art und Weise, wie das eigene Tun 2015 hochmoralisch aufgeladen wurde, auch von kirchlicher Seite. Auch wie das Thema der Willkommenskultur kirchlicherseits behandelt wurde und das Unverständnis gegenüber denen, die das kritisch sahen. Es fehlte das Verständnis dafür, dass die EU-Außengrenzen geschützt werden müssen und dass man die Kontrolle über das ganze Geschehen zurückgewinnen muss.
Widerspricht die ungarische Position, als „Christliches Abendland“ keine Muslime aufzunehmen, christlichen Überzeugungen?
Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik
Gesinnungsethik nach der klassischen Definition des Soziologen Max Weber heißt:
„Nicht die Folgen meines Handelns sind ausschlaggebend dafür, wie ich Händle, sondern der gute Wille“.
Eine Verantwortungsethik hingegen bedenkt die Folgen seines Handelns mit. Ist es nicht ethisch fragwürdig, wenn man am Ende nur selbst gut sein will, obwohl die Folgen des Handelns den Menschen schaden?
Ein Staat braucht die Kontrolle über das Recht und damit auch über die Grenzen. Nicht zuletzt auch um all jenen Menschen, die bei ihm um Asyl bitten, ein würdiges Leben zu ermöglichen. Wenn man hinter jedem Abzuschiebenden das menschliche Schicksal sehe, wird man handlungsunfähig. Und die Bergpredigt kann wohl nicht auf die Politik übertragen werden.
An dieser Stelle möchte ich einen Gedanken aus dem Buch “ Ethik der Migration“ des Philosophen Julian Nida – Rümelin aufgreifen. Er meint, der Liberalismus des 19. Jahrhunderts sei übers Ziel hinausgeschossen mit dem Motto: gebt Freiheit, reißt die feudalen Strukturen ein, baut Grenzen ab, dann gedeiht die Wirtschaft und die Welt verbessert sich. Der Philosoph stellt die Frage: Ist politische Gestaltungskraft vereinbar mit einem grenzenlosen, entfesselten, globalen Arbeitsmarkt?
„No borders“ würde die Staaten bestrafen, die besonders günstige sozialstaatliche Bedingungen bieten. Es ist ja kein Zufall, dass Deutschland, Österreich und Schweden 2015 die Hauptziele waren. Die Forderung nach einer grenzenlosen Welt komme von einem Bündnis aus linken Idealisten und Wirtschaftsinteressen – ohne dass beide sich dieses Bündnisses bewusst sind.
Den Libertären, die ganz auf den freien Markt setzen, sei nicht klar, dass dies im Kern eine anarchistische Idee ist. Die Linken würden nicht merken, dass sie Markt-radikal argumentieren. Beide Seiten würden verkennen, dass Optimierung immer nur innerhalb von verlässlichen Strukturen funktioniert. Wenn sie alle Regeln sprenge, unterminiere dies am Ende den wirtschaftlichen Erfolg.
Zum Schluss einige Gedanken in Stichworten:
– Die Würde des Menschen ist unantastbar
– Migration muss in geregelten Bahnen auf einer klaren Rechtsgrundlage erfolgen
– Auch Flüchtlingspolitik braucht einen klaren rechtlichen Rahmen
– Flüchtlinge und Migranten haben Rechte und Pflichten
– Folgt Ethik grundsätzlich dem Recht oder kann das Recht auch der Ethik folgen?
– Migrations- und Flüchtlingspolitik sind hoheitliche Aufgaben und können nicht privatisiert werden
– Migration ist kein Grundrecht wie es kein Grundrecht auf ein besseres Leben gibt
– Entwicklungshilfe ist neu zu gestalten (Hilfe zur Selbsthilfe)
– Migranten sind keine Sklaven der entwickelten Industriestaaten
– Die Belastbarkeit gewachsener Gesellschaftsstrukturen hat Grenzen
Pius Leitner
Abgeordneter zum Südtiroler Landtag a. D.
Bozen, am 1. Oktober 2019